Was nicht erinnert wird, kann jederzeit wieder geschehen
Seminar NS-Gedenkorte: Corinna Malek (Bezirk Schwaben), PD Dr. Stefan Paulus (Universität Augsburg), Dr. Sylvia Heudecker (Schwabenakademie Irsee),
Prof. Dr. Christian Kuchler (Universität Augsburg), Julia Winterstein (Dominikus-Ringeisen-Werk) und Robert Bielesch (St. Josefskongregation) (von links). Foto Maria Wiedemann
Ursberg 10.11.2023 – Eine weitere Veranstaltung in der Reihe „NS-Erinnerungsorte sehen und verstehen“ unter der Leitung der Bezirksheimatpflege Schwaben und der Schwabenakademie Irsee fand am 10. November in Ursberg statt. Dabei handelte es sowohl um Erinnerung und wissenschaftliche Aufarbeitung der NS-Zeit als auch Erinnerungsorte – wie z.B. den neu geschaffenen Gedenkort im Klostergarten der St. Josefskongregation in Ursberg – sichtbar zu machen und die lokalen Akteure zu vernetzen.
Geistlicher Direktor Martin Riß zitierte zur Begrüßung die zwangssterilisierte Dorothea Buck: „Was nicht erinnert wird, kann jederzeit wieder geschehen, wenn die äußeren Lebensumstände sich entscheidend verschlechtern.“
„Nie Wieder“
Zahlreich sind die Menschen zu einem Plenum zusammengekommen – Ehrenamtliche sowie die Berufsgruppen Museen, Archive, historische -, Heimat- und Kulturvereine, Förderkreise und Schule -, um aktiv an der Erinnerungsarbeit zu den Themen für „Euthanasie“ und andere Verbrechen der NS-Zeit mitzuwirken und diese zu gestalten. Es geht um ein „Nie Wieder“ und dies schwabenweit sichtbar zu machen.
PD Dr. Stefan Paulus stellte das Zertifikat „Praxisfeld Gedenkstättenarbeit“ an der Universität Augsburg vor, welches im Rahmen eines normalen Studiums mittels Auseinandersetzung vor Ort in Dachau, fachspezifischen Kenntnissen und berufspraktischer Kompetenz erworben werden kann.
Prof. Dr. Christian Kuchler (Lehrstuhl für Didaktik der Geschichte an der Universität Augsburg) widmete sich der Überlegung, wie historische Bildung an „schwierigen“ Orten gelingen kann. Neben der pessimistischen Analyse des stetigen Bedeutungsverlustes der historisch-politischen Bildung stellte Kuchler die wachsende Zahl der Gedenkorte gegen das Vergessen, also z.B. Ursberg, gegenüber: „Das bewusste Umgehen mit der Vergangenheit, das Erschließen der historischen Gewordenheit des Ortes, an dem ich wohne, insbesondere die Kommunikation über die Geschichte der NS-Zeit fördert die Entwicklung einer vernünftigen, aktiven und lebendigen Erinnerungskultur. Das Leben in einer Demokratie kann nur mit Geschichte funktionieren“, schlussfolgerte der Referent.
Eine Schülergruppe des Ringeisen-Gymnasiums Ursberg mit Sarah Doser, Jennifer Müller, Paul Nicke und Selma Aumann stellten das Projekt „Klosterge- schichte in der NS-Zeit“ unter Leitung von Lehrer Sebastian Eberle vor. Deren Ziel ist es, in das Themenspektrum des Museums – wie Schwestern, Prämonstratenser, Dominikus Ringeisen, Behindertenarbeit damals und heute – neu das Thema „Euthanasie“ mit einzuarbeiten. „Wer hat diesbezügliche Erfahrung mit eigenen Verwandten vor Ort? Wie war und ist die Reaktion der Bevölkerung? Was ist der Mensch (wert)? Wie wurde damals mit Menschen umgegangen, wie heute? Wo stehen wir heute mit der Ökonomisierung des Gesundheitsbereiches? Mit In- und Exklusion?“, waren Anregungen der Teilnehmer. Domvikar Ulrich Müller liegt „das Ringen der Menschen um das, was damals geschah“ am Herzen.
Emotionale Sichtbarkeit
Alfred Platschka, Mitglied des Stiftungsrates „Europäische Holocaustgedenkstätte“ ist es wichtig, „über die emotionale Sichtbarkeit der Situation der damaligen Häftlinge Aufklärung zu betreiben. Wie kam es zu solch einer Entmenschlichung des Menschen, dass neben den Vernichtungslagern Arbeitslager zur Vernichtung des Menschen durch Arbeit kommen konnte? In den elf Auschwitz-Außenlagern Kaufering ging ab 1944 das erste deutsche Düsenflugzeug ME-262 in Serie. Die deutsche Bevölkerung hat die ideologische Manipulation zu spät durchschaut. Widerständler wurden sodann selbst zu Verfolgten des Systems und inhaftiert. In den Lagern wurde der bewusst gesetzte Kapo zum Vollstecker der Befehle gegen die Mithäftlinge. Charakterfestigkeit versus Ausleben von Willkür sowie Macht- und Überlegenheitsgefühlen bis hin zu übelstem Sadismus dieser Kapos den Mithäftlingen gegenüber bestimmte den Arbeitsalltag. Die mangelhafte Aufarbeitung der NS-Zeit spiegelt sich in den gegenwärtige Problemen wider“, so das Fazit Platschkas.
Julia Winterstein (Referentin Projektmanagement beim Dominikus-Ringeisen-Werk) und Robert Bielesch (Öffentlichkeitsarbeit der St. Josefskongregation) stellten die zwei Mahnmäler Ursbergs vor: der Krumbacher Künstler Alfred Görig hat 2004 ein Denkmal auf dem Klosterhof für die 379 Euthanasie- als auch die Kriegsopfer der zwei Weltkriege geschaffen.
„Menschen aus unserer Mitte“ ein Gesicht geben und aus der Anonymität heben
Am 27. Januar 2023, dem Nationalgedenktag an den Holocaust, wurde ein weiterer Gedenkort gesegnet. „Mit den sieben Stelen mit Bild und Kurzbiogaphie von jeweils zwei Menschen (14 exemplarische Opfer des NS-Regimes aus Ursberg), die damals ermordet wurden, möchten wir eine höhere Identifi kation mit dem persönlichen Schicksal der Opfer wecken“, ist das Anliegen von Sr. M. Katharina Wildenauer.
Die Broschüre „NS-Erinnerungsorte in Schwaben“, mit z.B. Burgau, Ursberg usw., wurde diskutiert. Neben der Bayerischen Landesausstellung, die 2027 u.a. in Ursberg stattfi nden wird, wurde der nächste Termin der Veranstaltungsreihe zum Thema „NS-Gedenken und Digitalität“ für September 2024 in Irsee bekannt gegeben.
Dr. Sylvia Heudecker von der Schwabenakademie Irsee und Corinna Malek vom Bezirk Schwaben freuten sich: „Bei aller Schwere des Themas kann durch die rege Beteiligung des Plenums eine zeitgemäße und lebendige Erinnerungskultur – insbesondere vor Ort wie in Ursberg – geschaffen werden, die dort ankommt, wo sie soll: beim Menschen.“
Text und Bilder: Maria Wiedemann